„Woran erinnert dich das?“, fragte mich ein Leser dieses Blogs und wies mich auf zwei Schönschreibübungen hin, die die OZ in der vergangenen Woche veröffentlichte. Mir fiel ein, was die OZ vor 18 Jahren berichtete. Da wurde von erfüllten und übererfüllten Kampfaufträgen zu Ehren des Republik-Geburtstages berichtet und in den Kaufhallen gab es nicht einmal Koteletts zu kaufen. Ein Jahr später gab es auch die DDR nicht mehr.
Natürlich ist das kein Vergleich, aber eine Erinnerung.
Hier die Erinnerungswecker:
Arbeitslosigkeit stark gesunken
MV gibt die Rote Laterne ab
Mecklenburg-Vorpommern nimmt Fahrt auf. Die Häfen boomen. Nirgendwo in Deutschland wächst die Wirtschaft so kräftig. Jetzt erreicht der Aufschwung spürbar den Arbeitsmarkt.
... Insgesamt waren 131 200 Menschen ohne Job - der niedrigste Stand seit September 1995. ...
Dass diese Zahlen nicht miteinander verglichen werden können, ist den OZ-Redakteuren egal. Sie brauchten nur die Monatsberichte der Bundesagentur für Arbeit zu lesen, dann wüssten sie es besser. Das beginnt damit, dass neun Seiten darüber Auskunft geben, wie die Daten zu interpretieren sind, bis hin zu der Bemerkung:
Hauptgrund für die Abnahme der Arbeitslosenzahl ist das positive konjunkturelle Umfeld, außerdem spielt der Rückgang des Arbeitskräfteangebots eine Rolle.
Und noch dies aus dem Statistischen Landesamt, Wanderungen in Mecklenburg-Vorpommern 2006, Herausgabe: 3. September 2007:
Mecklenburg-Vorpommern hat in den Jahren 1990 bis 2006 durch Wanderungsverluste insgesamt 152463 Personen, darunter 65761 Personen männlichen und 86702 Personen weiblichen Geschlechts verloren.
... Im Jahr 2006 sind 98,1 Prozent (Vorjahr 71,4 Prozent) aller Wanderungsverluste auf die Altersgruppe der 15- bis unter 35-Jährigen entfallen. ...
Und was schreibt die OZ darüber? Ich fand nichts.
Auch das stand in dem OZ-Bericht:
... Besonders erfreulich für MV: Die sozialversicherungspflichtigen Jobs nahmen bis Juli 2007 in einem Jahr um 10 000 zu. ...
Das sind etwa 833 pro Monat. Das ist erfreulich aber nicht die ganze Wahrheit, denn am 31. Dezember 2006 waren fast 17 Prozent aller sv-pflichtig Beschäftigten Teilzeitkräfte (Statistisches Landesamt, Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Mecklenburg-Vorpommern, 31.12.2006, Herausgabe: 5. September 2007)
Seltsam ist, dass niemand in der OZ merkte oder merken wollte, dass von Juli 2006 bis Juli 2007 die Zahl der Arbeitslosen nicht um 10000 sondern um 19500 abnahm. Wo sind die 9500 Menschen geblieben, die keine sv-pflichtige Arbeit erhielten?
Der Zuwachs ist mit zwei Prozent sogar höher als in Bundesländern wie Baden-Württemberg (1,8 Prozent), Hessen (1,8 Prozent) oder Niedersachsen (1,7 Prozent). ...
Ja, warum wohl? Könnte es sein, dass die anderen Bundesländer den Anstieg längst hinter sich haben und kaum noch weitere Stellen geschaffen werden, so, wie es wahrscheinlich in M-V auch bald sein wird?
Wenn die OZ über eine ganze Blickpunktseite hinweg jubeln ließ: „Hurra, ich habe Arbeit!“, bin ich besonders misstrauisch. Zu Recht, denn keiner der Jubler wurde gefragt: „Wie viel verdienst du mit deiner Arbeit? Kannst du davon eine Familie ernähren oder allein menschenwürdig leben?“ Die Frage kann ein OZ-Redakteur auch schwerlich stellen, weil er fast das Doppelte des Durchschnittsbruttoverdienstes eines Beschäftigten in M-V erhält. Der Durchschnitt betrug 2471 Euro im Oktober 2006. Also bleibt auch die Frage unbeantwortet, wie viele der gepriesenen 10000 neuen Arbeitsmöglichkeiten Billigjobs sind.
Haben Sie in der OZ gelesen, dass auch im Land M-V so viele Stellen unbesetzt bleiben? Im August gab es 15 664 gemeldete freie Stellen, um die sich 139100 Arbeitslose bewerben konnten. Eine Stelle für neun Arbeitslose. Stand darüber etwas in der OZ?
Wer mehr über den Arbeitsmarkt wissen möchte, als die Wirtschaftsweisen der OZ, sollte hier nachlesen.
Am 25. September berichtete die OZ:
Wirtschaftswunder im Nordosten
Mit einem fulminanten Plus von vier Prozent im ersten Halbjahr 2007 katapultiert sich die Wirtschaft von MV an die Spitze aller Bundesländer. Die Landespolitik hofft jetzt auf einen Schub auf dem Arbeitsmarkt.
Oh Gott, ein Wunder ist geschehen? Von einem Wunder kann jedoch nicht die Rede sein und sollte deshalb auch nicht geschrieben werden.
Was ist fulminant?
berauschend, brillant, grandios, großartig, hinreißend, imposant, mitreißend, überwältigend, umwerfend.
© Duden - Das Synonymwörterbuch, 3. Aufl. Mannheim 2004 [CD-ROM]
Jetzt interessiert mich, wie der Autor ein Wirtschaftswachstum von acht oder zehn Prozent bezeichnen würde. Oder wer sprach von einem berauschenden Wachstum? Aha, der Autor. So werden Bericht und Kommentar vermischt. Er verliert jeglichen Abstand zum Thema. Das sollte einem hochbezahlten Redakteur nicht passieren und schon gar nicht bei solch einem Thema.
Dann dürfen sich in der OZ der Ministerpräsident und zwei seiner Minister beweihräuchern, dass es einem aufmerksamen Leser schon peinlich ist, weil er vermutet, unaufmerksam gewesen zu sein und einer Regierungsoffenbarung auf den sprichwörtlichen Leim gegangen zu sein statt einer Tageszeitung und er, der Leser, nichts davon merkte. Wenn das so weitergeht, können die Ministerien ihre Presseabteilungen schließen und Steuergeld sparen.
Schließlich traute ich meinen Augen nicht:
... In den zurückliegenden mehr als zehn Jahren hat die Wirtschaftbilanz des Landes immer darunter gelitten, dass die in einer tiefen Krise und in einem damit verbundenen drastischen Strukturwandel steckende Baubranche von der einstigen Konjunkturlokomotive zum Bremsklotz avancierte. Die Beschäftigtenzahl hier halbierte sich auf aktuell rund 18 000. ...
Hallo, liebe OZ-Wirtschaftsweisen! Haben Sie ganz überlesen, was 1995 in der Baubranche los war?
Kleine Erinnerung mit Hilfe des Statistischen Landesamtes:
Im Bereich vorbereitende Baustellenarbeiten, Hoch- und Tiefbau arbeiteten 1995 im Monatsschnitt 51425 Menschen, im Juni 2007 waren es 17610, also etwa noch ein Drittel.
Für die OZ ist es meldenswert, dass die Baubetreibe von Januar bis Juli 2007 im Monatsdurchschnitt 17 Prozent mehr Umsatz erzielten. Ohne Bedeutung für die Wirtschaftsweisen ist, dass dieser Zuwachs mit nur 2,2 Prozent mehr Arbeitskräften geschafft wurde.
Ist ja alles gut und schön. Doch was haben die Arbeitenden davon, dass sich die Wirtschaft erholt, höhere Verdienste? Wäre ja noch schöner! Die können froh sein, dass sie überhaupt arbeiten dürfen, ob für 1,20 Euro oder 4,50 Euro pro Stunde. Doch Vorsicht, irgendwann ist der Punkt erreicht, dass Leute arbeiten gehen und dafür noch bezahlen.
Die Bruttomonatsverdienste stiegen laut Statistischem Landesamt von Januar bis Oktober 2006 um Schwindel erregende 43 Euro, eine Steigerung um 1,8 Prozent. Dass darüber noch keine Blickpunktseite gemacht wurde (Hurra! Wir verdienen mehr!), wundert mich. Oder übersah ich sie?
Dass 2007 nicht viel Verdienst dazugekommen sein kann, zeigt der Einzelhandelsumsatz in diesem Jahr. Der lag im Juli 2007 um 0,2 Prozent höher als im Jahresdurchschnitt 2003.
Im September 2007 setzte der Einzelhandel sogar drei Prozent weniger um als im September vor einem Jahr. Das harmoniert sehr schön mit der Teuerung. Der Verbraucherpreisindex lag um drei Prozent höher als vor einem Jahr. (Alle Zahlen aus Zahlenspiegel Mecklenburg-Vorpommern Oktober 2007) Die Leute haben also nicht mehr Geld zum Ausgeben, allen früheren Schönschreibübungen der OZ zum Trotz.
Völlig untergegangen ist, dass die Verbraucher in M-V nicht nur weniger Autos kaufen und weniger tanken, sondern auch an Nahrungsmitteln sparen. So verringerte sich der Umsatz (preisbereinigt) in SB-Märkten und Verbrauchermärkten von Januar bis Juli 2007 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3,7 Prozent.
Bloß gut, dass es die OZ gibt, die ihren Lesern von einer fulminat schönen, heilen Welt berichtet.
Morgen wird die OZ vom CSU-Parteitag berichten, als gäbe es im Verbreitungsgebiet der OZ weder Radios, Fernsehapparate, noch das Internet, statt sich mit Hintergrundberichten zu wichtigen Themen zu profilieren.Natürlich ist mir klar, dass es über den Parteitag viele Agenturmeldungen gibt. Das spart Arbeit.
Doch es werden immer mehr Leser das Geld für die OZ sparen.
Und nun lasst mich endlich mein Buch schreiben!
Nachträge, 01.10.07
1. Natürlich gibt es Journalisten, die Zahlen nicht einfach abschreiben.
2. Warum hat bisher noch niemand über das Paradoxon geschrieben, dass mit dem Hartz 4-Gesetz entstand: Es gibt seit 2005 die Pflicht zur Arbeit, jedoch nicht das Recht auf Arbeit.
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