Zu meinem Eintrag über Leserbeschwerden wegen unausgewogener Berichterstattung in der Greifswalder Zeitung gehörte auch ein Auszug aus einem Leserbrief. Den Brief erhielt ich nun ungekürzt vom Verfasser und reiche ihn an Sie weiter:
Werter Herr Amler,
ich kann mir vorstellen, daß Sie sich über lobende Zuschriften zu der Fotoserie "damals und heute" freuen. Um so mehr fühle ich mich bestärkt, Ihnen zu schreiben, daß ich mich jeden Tag über diese Schönfärberei ärgere und erwäge, die OZ abzubestellen. Sie werden sich wundern und fragen, was ist das für ein weltfremder Mensch?
Ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht weltfremd bin.
Es sind besonders die Aufnahmen aus der Gützkower Straße, die mich dazu treiben, Ihnen zu schreiben. Ich bin seit 1980 fast täglich diesen Weg zur Arbeit gegangen (oder manchmal mit dem Rad gefahren) und als ich Anfang der 90ger mal mit meiner Frau dort entlangging, fragte sie mich entgeistert: "Und hier bist Du jeden Tag gegangen?" Ich kann Ihnen versichern, daß ich die Tristesse wohl wahrgenommen habe - aber ich kannte das gar nicht anders. Schon in den fünfziger Jahren, beim Besuch von Verwandten, die in der nahe gelegenen Erich-Böhmke-Straße wohnten, war das nicht viel anders! - Greifswald war eine Universität mit einem armseligen Ackerbürgerstädtchen drumherum. Seine Glanzzeiten hatte Greifswald damals schon lange hinter - und erst wieder vor sich.
Da ich das Glück hatte, auch nach der "Wende" diesen Weg zu meiner Arbeitstelle gehen (oder fahren) zu dürfen, habe ich Veränderungen sehr genau registriert und mich darüber gefreut, wie diese Straße langsam ein freundlicheres Gesicht bekam. - Aber ich habe dabei nie vergessen, welch einen Preis wir dafür zu zahlen hatten und haben.
Angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse, der Massenarbeitslosigkeit, der schamlosen Ausnutzung Jugendlicher als "Praktikanten", des Bildungsnotstands, der Demütigung von Millionen Menschen (den sogenannten "Hartz-IV"-Empfängern und Ein-Euro-Jobbern), der Obdachlosigkeit, kann ich mich über diesen neuen Glanz nur mäßig freuen. - Übrigens vergaßen Sie zu erwähnen: Der Obdachlose Klaus wurde dort ermordet. Zufall - oder paßte es nicht in Ihre Erfolgsstory?
Apropos Vergeßlichkeit. Ich hatte auf dem Marktplatz am letzten Freitag folgendes Erlebnis. Ein Mann philosophiert hörbar über die Vergeßlichkeit der Menschen und gegenwärtige Situation: "Haben wir nicht einmal geschworen: Nie wieder Krieg? Und: "daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint"?
O ja, es hat sich viel verändert - aber nicht alles zum Guten! Vielleicht versuchen Sie in der angekündigten Serie ab Mitte Oktober (20 Jahre nach der Wende) auch zu zeigen, was in dieser Zeit zerstört wurde. Was wurde aus den Großbetrieben, was aus den Lehrlingswohnheimen, den Kinderferienlagern (z.B. der Insel Görmitz), und und und
Ich grüße Sie!
Erhard Kiehnbaum
Na hoffentlich dämmert es mal bei den Damen und Herren der OZ und sie merken, das nicht alles Gold ist, was glänzt.
AntwortenLöschenMenschen werden hier inzwischen so schikaniert und ausgebeutet das einem übel wird!
Ein sehr schönes Schreiben.
AntwortenLöschenHier erinnere ich mich an ein Lied von Tamara D.oder kurz Silly, dass gleich nach der Wende zu hören war:
Alles wird besser, alles wird besser, aber nichts wird gut.