31. Dezember 2005

Mein Jahresrückblick

Das wichtigste Ereignis im Jahre 2005 in Deutschland war für mich der Großversuch mit 4,6 Millionen Menschen, um herauszufinden, mit wie wenig Geld - Arbeitslosengeld 2 - so viele Menschen auskommen. Der Versuch gelang, denn die vom Hartz 4-Gesetz Betroffenen nahmen es hin, arm zu sein. Sie plünderten weder Geschäfte noch Villen und jagten auch nicht die Regierung zum Teufel.
Und welches Ereignis erregte in mir den größten Ekel? Peter Hartz überreichte Gerhard Schröder eine CD mit den Hartz-Gesetzen und sagte: „Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen.“


Hartz verschwand in der Versenkung; Schröder entließ sich selbst und seine Regierung. Doch der Großversuch wird im kommenden Jahr fortgesetzt, was wieder zeigt, dass die Regierenden Marionetten und damit austauschbar sind.

Ex-Superminister Clement wollte vor seinem Abgang einen Rest seines Ansehens retten und ließ eine Haltet-den-Dieb-Studie erarbeiten: „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat. Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, August 2005. Damit vertuschte er die schweren Fehler, die Berater und Regierung machten, als sie die Hartz-Gesetze zusammenschusterten und damit zusätzliche Kosten von mehreren Milliarden Euro provozierten. Fast alle Medien ließen sich an der Nase herumführen.
Wäre es zu mühsam gewesen, in den Zeitungen jenen Gehör und Platz zu schenken, die belegen konnten, welch ein Unsinn in die Welt gesetzt wurde.


Zu ihnen gehören Vertreter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (Aktuelles,
Reden, Statements und Veröffentlichungen), wie Rudolf Martens mit seiner Arbeit „Vermuteter Sozialmissbrauch und gefühlte Kostenexplosion beim Arbeitslosengeld II. Ein Vergleich mit empirischen Befunden zum Missbrauch von Sozialhilfe“. Lieber wurden Parolen von Politikern veröffentlicht, als dass sich Journalisten mit Berichten wie diesem beschäftigten.


Was hätten die Journalisten von Rudolf Martens erfahren?
Z. B. Kritik an der Arbeit der Medien: Regierung und Medien sehen den Missbrauch ausschließlich bei den Leistungsempfängern. Ein „Missbrauch“ kann aber auch vorliegen, wenn Amtsstellen ihre Auskunfts-, Beratungs- und Informationspflichten sowie die Verfahrensvorschriften in grober Weise missachten – zum Beispiel, um damit Mittel einzusparen. „Missbrauch“ könnte es auch genannt werden, wenn Ansprüche von Leistungsberechtigten durch unangemessene Hilfeangebote geschmälert oder faktisch verweigert werden. Des Weiteren könnte mit dem Wort „Missbrauch“ auch eine mögliche unberechtigte Auszahlung an einzelne Empfänger oder die eigene Adresse eines Mitarbeiters im Amt bezeichnet werden. Hier sind oft Korruption und Unterschlagung im Spiel.


Z. B. Kritik an der Arbeit der Medien: In der Öffentlichkeit ist der absurde Eindruck entstanden, dass durch eine konsequente Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs enorme Einsparungen in den Sozialhaushalten zu erzielen seien. Weitere Folgen dieser Diskussion sind zumeist, dass in der Öffentlichkeit zu Unrecht vermutet wird, die Ämter gingen viel zu lasch gegen Leistungsmissbrauch vor.

Z. B.: Die Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen veranschlagte den Einkommensverlust der künftigen Arbeitslosengeld 2-Bezieher auf 2,6 Milliarden Euro. Wegen zusätzlicher Wohngeldzahlungen und höherer Zuzahlungen für Sozialversicherungsträger reduziere sich die Einsparsumme kurzfristig insgesamt zwar auf 1,1 Milliarden Euro; durch Effizienzgewinne im System rechnete die Arbeitsgruppe aber mittelfristig mit jährlichen Einsparungen von 4,2 Milliarden Euro.

Z. B.: Zu den erwarteten Einsparungen durch Hartz 4 – der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe – ist es ganz offensichtlich nicht gekommen, aber auch zu keiner
„Kostenexplosion“ und dem behaupteten massenhaften Missbrauch von Arbeitslosengeld II.

Schließlich sollten bei der politischen Diskussion um Missbrauch bei Sozialleistungen auch die Dimensionen bedacht und richtig eingeordnet werden: Während es hierbei um Beträge von einigen Millionen Euro geht, geht es beim Steuerbetrug um zweistellige Milliardenbeträge. Die Deutsche Steuergewerkschaft beklagt: Tricks und Steuerakrobatik kosteten den Staat zehn bis 20 Milliarden Euro; dazu kämen 60 bis 70 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung. Dagegen ist der Verlust durch Leistungsmissbrauch ein lächerliches Sümmchen.

Warum werden Alg 2-Empfänger diskriminiert und kriminalisiert, wie ich es an Beipielen aus der Rügener Redaktion berichtete?
Ich vermute, es sind Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit. Doch es steckt mehr dahinter, beschrieben von Wilhelm Heitmeyer in
„Die verstörte Gesellschaft“ (DIE ZEIT 15.12.2005 Nr.51). Seine These: „In weiten Teilen der Bevölkerung wächst die Orientierungslosigkeit – und mit ihr der Druck auf Minderheiten.“

Seine Untersuchungen ergaben:
Angst vor sozialem Abstieg verspüren heute etwa jeder zweite Befragte, also nicht nur Befragte in den unteren, sondern auch in mittleren und gehobenen Soziallagen, mithin jene, die viel zu verlieren haben – forciert durch »Hartz IV« als Ausdruck sozialer Abstiegsgefahr.
Offensichtlich bleibt es nicht ohne Folgen für gesellschaftlich schwache Gruppen, wenn sie Fremdheitsgefühle »im eigenen Land« auslösen, als wirtschaftliche Konkurrenz wahrgenommen werden, eingeschliffene kulturelle Selbstverständlichkeiten infrage stellen oder angeblich die öffentliche Ordnung stören.


Es könnten sich auch Reaktionen aus der Mitte der Gesellschaft gegen »die da oben« richten. Aber leichter und individuell risikoloser ist es, solche Reaktionen gegen Schwache zu wenden, in Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das machtlose Verzagen gegenüber den Starken schlägt um – abgewertet werden die Schwachen. Hinter dieser Abwertung verbirgt sich eine Art Selbstaufwertung in unsicheren Zeiten.

Die »Mitte« ist in vielerlei Hinsicht ähnlich feindselig geworden wie Personen, die ihre Position rechts verordnen. Man kann sagen: Die Mitte wird »normal feindselig«. Der eigenen Verstörung kann man so eine Normalität von Hierarchien, Zugehörigkeit und Normdurchsetzung entgegenstellen, die wiederum zur eigenen Stabilität beiträgt.
Eine große Zahl von Menschen versucht, ihrer eigenen Unsicherheit mittels einer Ideologie der Ungleichwertigkeit zu entkommen. Sie äußert sich als demonstrative Überlegenheit, ein reines Surrogat.

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