Ich nahm also den Stimmzettel, legte ihn vor dem Ausgeber auf den Tisch, denn ich war es gewohnt, offen zu wählen und nicht in der Kabine, und begann, mit dem Kugelschreiber sauber und ordentlich jeden einzelnen Namen durchzustreichen. Als ich ein Mal kurz aufblickte, sah ich den entgeisterten Blick des Wahlhelfers und es war ganz still im Wahllokal. Zugleich spürte ich den Schweiß der Aufregung auf Stirn und Rücken perlen, unter den Achseln rinnen.
Im Jahr darauf erfuhr ich dann, dass die ganze Aufregung umsonst gewesen war, denn es war scheißegal, wie viele Nein-Stimmen abgegeben worden waren. Das Ergebnis stand vorher fest. Ich wählte noch ein letztes Mal in meinem Leben.
Die OZ berichtete gestern blickpunktseitig über das gefälschte Ergebnis der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989:
Die gefälschte Wahl
Vor 20 Jahren bog die SED die Ergebnisse der DDR-Kommunalwahlen zurecht. Es mussten über 98 Prozent Zustimmung erreicht werden. ...Aha, die SED also. Heute wird ebenso anonymisiert, die Politik statt die Politiker geschrieben.
Mit dem sehr langen Artikel kratzte der Autor bildlich dennoch nur an der Oberfläche. Wieder einmal vermied es die Redaktion, ein bestimmtes Ereignis, hier die Kommunalwahlen, zum Anlass zu nehmen, kritisch auf die OZ in der Zeit vor 20 Jahren zurückzublicken.
Keiner der Redakteure der OZ, dem Zentralorgan der Bezirksleitung Rostock der SED, wusste, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen gefälscht waren? Allesamt waren völlig ahnungslos?
Waren die Leiter der Lokalredaktionen nicht sämtlich SED-Mitglieder und den Kreissekretären für Agitation und Propaganda unterstellt? Wenn nicht, wem dann? Oder waren sie direkt Mitglieder der Kreisleitungen? War nicht ein einziger dieser Chefs dabei, als die Wahlergebnisse überarbeitet wurden? Wenn nicht, woher erhielten sie die Zahlen?
... Vorsitzende der Stadtwahlkommission Klaus Ewald (SED, heute 70) in einer Selbstanzeige eine "Verfälschung des Wahlergebnisses vom 7. Mai 1989 in der Stadt Greifswald" zugegeben hatte ...Gehören nicht auch jene zu den Fälschern, die dabei saßen? Waren alle nur bemitleidenswerte Mitläufer? War es vielleicht so, wie heute mit den Arbeitslosenzahlen, die ohne Nachfrage, ohne kritischen Abstand nachgeplappert und an die Leser verkauft werden? Hinkt der Vergleich wirklich?
Wenn die OZ gestern berichtete, was vor 20 Jahren getan werden musste, um eine gültige Nein-Stimme abzugeben,
Gegenstimmen zum Wahlvorschlag der Nationalen Front der DDR sindwar das mindestens 20 Jahre zu spät. Ist dieser Gedanke irgendeinem der Redakteure gekommen, die damals schon OZ-Redakteure waren?
a) Stimmzettel, auf denen die Namen sämtlicher Kandidaten durchgestrichen sind, (...)
Es arbeiten doch noch etliche Redakteure in den Redaktionen, wie auch schon vor 20 Jahren. Niemand wurde gefragt.
Ich halte es für zutiefst scheinheilig, wie die OZ über die Zeit berichtet, von wegen "wir waren nur die Überbringer der Nachricht".
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